Wegweiser
Stekkur Wegweiser

27. September 2000

Ich weiß immer gar nicht, welches Datum wir heute haben. Manchmal weiß ich nicht einmal, welcher Wochentag ist. Heute ist Posttag. Das heißt, heute kommt die Post das 2. Mal (von 3 Malen) in dieser Woche. Ich war enttäuscht, keinen Brief erhalten zu haben. Eigentlich kann ich damit auch noch nicht rechnen, aber gehofft hatte ich es schon irgendwie.

Gestern war ein guter Tag. Ich war mit Pétur alleine und wir haben uns ganz viel mit dem Wörterbuch unterhalten. Es macht Spaß und wir lachen viel dabei. Er hat gestern gesagt, dass ich „tüchtig“ bin und „kräftig“. Ich fand das ziemlich befreiend, denn bis gestern wusste ich nicht genau, wie ich meine Arbeit mache. Ich selbst weiß, dass ich alles gegeben habe, doch wusste ich nicht, ob Pétur als Arbeitgeber mit mir zufrieden ist. Ich bin glücklich.

Wir haben uns dann gegenseitig etwas vorgespielt, er auf dem Akkordeon und der Orgel und ich auf der Gitarre. Er meint, ich sollte weiterüben und im Februar gibt es dann eine Art Fest, wo alle was vorspielen und singen. Ich könnte vielleicht mit Kerstin etwas deutsche Musik spielen. Lustig fand ich, dass er den Schneewalzer gespielt hat und nicht wusste, dass dieser aus Deutschland kommt.

Heute sind Sigfús und Vilborg wieder da, so ist die Arbeit doch etwas leichter. Sigfús hilft füttern und macht das Drumherum und Vilborg kocht abends das Essen. So sind wir abends auch eher fertig mit allem.

Das Gemüse aus der Dose (Mais, Erbsen) wird kalt gegessen. Dann, anstatt aus dem Bratenwasser eine anständige Soße zu machen, kippen sie das gute Bratenwasser weg und kochen stattdessen eine dieser Fertigsoßen aus der Tüte. Man könnte ja auch aus dem Gemüsewasser eine leckere Mehlschwitze machen. Irgendwann, so habe ich mir vorgenommen, werde ich mal anständig deutsch kochen.

Ich fühle mich jeden Tag wohler. Seit gestern habe ich auch das Gefühl, am richtigen Platz zu sein. Die Menschen gefallen mir. Einige sind sehr verschlossen und ich weiß nicht oder kann nicht einschätzen, wie sie so drauf sind. Ich möchte ja nicht unhöflich sein, ich bedanke mich und freue mich, wenn ich ein Lächeln zurückbekomme.

Sigfús und ich reden eigentlich gar nicht miteinander. Wir sprechen über „Grimassen“ (isländisch gríma = Maske). Entweder lächeln wir oder verständigen uns über andere verzogene Gesichtszüge. Ich finde ihn, soweit ich das so beurteilen kann, nett.

Hier rülpsen und furzen die Leute, wie es ihnen gefällt, ohne sich zu schämen oder auch nur entschuldigend dreinzuschauen. Pétur popelt auch ganz öffentlich. Ich denke, eigentlich finde ich es gut, andererseits finde ich es manchmal doch echt eklig. Rülpsen ist in Ordnung, Luft muss raus.

Pétur hat mir erzählt (wenn ich ihn richtig verstanden habe), dass innerhalb der nächsten Zeit 9 Kälber auf die Welt kommen werden. Ein Kalb erwarten wir in den nächsten Tagen. Ich habe noch nie gesehen, wie ein Kalb oder Fohlen zur Welt kommt. Ich war noch nie hautnah dabei.

Mir fällt auf, einige Dinge, die ich in Deutschland nie essen oder machen würde, die tue ich hier einfach, ohne wirklich drüber nachzudenken. Es verändert sich schon einiges.

Manchmal denke ich, dass wenn mich meine Verwandten oder Freunde so sehen könnten wie jetzt, sie sich kaputtlachen würden.

Dies hier ist ein wunderbares Erlebnis. Ich sage es mir jeden Tag, wenn ich aus dem Haus gehe oder nur rausschaue und dabei diesen unglaublichen Horizont sehe, der sich ständig verändert. Auch die Berghänge sehen jeden Tag anders aus!

Am Freitag werden wieder Schafe von den Bergen ins Tal getrieben. Wenn ich rausgeschickt werde von Pétur, weiß ich nicht, was ich überhaupt tun soll. Sollen die Schafe in die oder die andere Richtung laufen und welche Richtung und wohin überhaupt?

Ich stehe dann immer ziemlich hilflos auf der Weide und die Schafe meckern auch noch obendrein. Mich ärgert das ziemlich, denn ursprünglich wollte ich nur mit Schafen arbeiten!

Jetzt bin ich teilweise schon froh, dass es Milchkühe sind, so gerne wie ich Milch trinke, so gut ist es zu wissen, wo sie herkommt bzw. wieviel Mühe es macht einen Liter Milch zu bekommen. Wir haben heute bei jeder Kuh gemessen, wieviel Milch sie gibt. Péturs beste Kuh (leider auch die quängeligste beim Anlegen der Melkmaschine und beim Reinigen der Euter) gibt 9 Liter Milch auf einmal. Das wenigste waren so 2 Liter Milch.

Der Winter wird lang!

Jeden Tag, wirklich, noch ist es an jedem Tag, passiert etwas Neues. Ich sehe oder entdecke etwas Neues, der Himmel sieht anders aus, es besuchen uns neue Leute, die ich noch nicht gesehen habe, die Kühe sind anders drauf oder wir fahren irgendwohin, wo ich noch nicht war, oder ich lerne etwas Neues.

Meine alten Hobbys habe ich im Moment in den Schrank gestellt. Ich übe, wenn ich Zeit finde, Gitarre oder schreibe oder höre nebenbei ein bisschen Musik. Noch bin ich nicht in der Lage, zeitlich etwas mehr für mich hier zu tun. Es ist anstrengend, sich an einen neuen und vollkommen anderen, fremden Lebensrhythmus zu gewöhnen. Ich finde es trotzdem spannend, was mit mir so passiert. Bisher war ich ziemlich betäubt von den ganzen Erlebnissen, dass ich mich selbst und mein Empfinden noch gar nicht fühlen oder fassen konnte. Ich warte eigentlich darauf, dass ich bald reagiere, bis jetzt waren es nur Freudenhüpfer im Herzen. Nur etwas Melancholie, wenn ich keine Post bekommen habe.

Ich fühle mich wohl und freue mich auf die kommenden Tage, wenn auch Hanna und ihr Freund mit Baby da sind. Sie sind mir sehr sympathisch.

Hanna ist die Tochter von Pétur und hat eine sehr offene und freundliche Art und ihr Freund Nonni trinkt am Wochenende gerne mal, wie anscheinend die meisten Isländer, ist aber sehr sympathisch.

Vorgestern hatte ich meine Fingernägel geschnitten, wohl aber etwas zu kurz. Jetzt tun mir die Fingerkuppen weh bei zu heißem Wasser. Ich wollte nur nicht, dass die Nägel einreißen. Ich gehe alle 2 Tage unter die Dusche. Ich glaub, den Kühen ist es egal, wie ich stinke.

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